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AutorenbildGerald Maier-Köck

Selbst-Diagnose von psychischen Erkrankungen: 11 Gefahren und häufige Fehler


Depressive Frau beim Psychotherapeuten während der Diagnose
Image by Drazen Zigic on Freepik


Seit Jahren ermutigen Gesundheitsexperten Menschen dazu, offen über psychische Gesundheit und etwaige Probleme zu sprechen. Besonders jüngere Generationen haben diesen Rat beherzigt. Es ist sehr positiv, dass die Menschen sich der Häufigkeit und der Relevanz psychischer Erkrankungen bewusster geworden sind. Eine unbeabsichtigte Entwicklung davon ist jedoch, dass immer mehr Jugendliche versuchen, sich selbst mithilfe der Internet-Recherche und auch mit Online-Videos (z.B.: TikTok, YouTube, ...) zu diagnostizieren.


Menschen aller Altersgruppen verwenden das Internet, um herauszufinden, was in ihrem Kopf und ihrer Psyche vor sich geht. Es gibt viele gute Informationen - aber leider auch viel Fehlinformationen und Falschinformationen. Eine Überprüfung von 500 TikTok-Videos zum Thema psychische Gesundheit ergab, dass nur 54% korrekte Informationen enthielten. Aber 84% enthielten Fehlinformationen. Ganze 14% enthielten sogar potenziell schädliche Informationen. Das ist kein TikTok spezifisches Problem - fehlerhafte Gesundheitsinformationen sind auch auf Plattformen wie YouTube und Facebook weit verbreitet.


Bereits die Verbreitung lediglich ungenauer Informationen über psychische Gesundheit im Internet ist ein ernsthaftes und schwieriges Problem. Doch selbst wenn Sie alle richtigen Fakten zur Hand haben, kann die Diagnose einer psychischen Erkrankung noch immer deutlich schwieriger sein, als Sie denken. Online-Videos suggerieren oft, dass das Vorhandensein bestimmter Verhaltenssymptome auf einer Checkliste bedeutet, dass Sie an eben dieser Erkrankung leiden. Doch wie jeder erfahrene Koch weiß: ein Haufen von Zutaten bestimmt noch lange nicht, wie ein Gericht am Ende tatsächlich schmeckt.


Gefahren einer ungenauen Diagnose


Abgesehen von Fehldiagnosen ist auch mangelnde Krankheitseinsicht (d.h. das Nicht-Anerkennen-Wollen, dass bestimmte Symptome vorhanden sind) für eine betroffene Person ein aktuelles Problem. Denn das Übersehen einer real vorliegenden psychischen Erkrankung verhindert fast immer eine wirksame Behandlung dieser Erkrankung. Und der frühzeitige Beginn einer Behandlung ist oft ausschlaggebend.


Eine ungenaue Selbst-Diagnose kann dazu führen, dass sich Menschen noch isolierter und allein fühlen. Sie kann das Selbstwertgefühl untergraben und harmlose Symptome in etwas Schwerwiegenderes verwandeln. Es kann Menschen dazu verleiten, bewusst oder unbewusst zusätzliche Symptome zu entwickeln, um besser zu einem Krankheitsbild zu passen, das sie gar nicht haben. Es kann dazu führen, dass man unglaublich viel Zeit und Sorgen in eine Erkrankung investiert, die man gar nicht hat.


Zu glauben, dass man an einer psychischen Erkrankung leidet, die man tatsächlich nicht hat, kann das eigene Durchhaltevermögen untergraben und das Selbstbild verzerren. Diese Bedenken sind besonders bei Jugendlichen relevant, bei denen die langfristigen negativen Auswirkungen solcher Schäden tiefgreifend sein können.


Warum ist eine genaue Diagnose so schwierig?


Psychiatrische und psychotherapeutische Experten haben leider selbst und unbeabsichtigt zur Verwirrung über die Diagnose von psychischen Erkrankungen beigetragen. Die diagnostischen Handbücher haben mit der Einführung von Checklisten versucht, die Auswirkungen von unterschiedliche Sichtweisen von therapeutischen Schulen auf mögliche Krankheitsursachen zu eliminieren. Deswegen konzentrieren sich diese Checklisten auf beobachtbare Symptome. Auf diese Weise sollen unterschiedliche Fachleute zu möglichst identen diagnostischen Schlüssen kommen.


Deswegen sehen diese Checklisten wie einfache Rezepte aus - jeder kann sie lesen, jeder kann den Anweisungen folgen und jeder schint feststellen zu können, ob er eine psychische Erkrankung hat. Allerdings - diese Checklisten sind nicht für die Anwendung durch jeden bestimmt, sondern richten sich ausschließlich an Personen mit der notwendigen Ausbildung und Erfahrung.


Selbst bei medizinisch meßbaren Werten - wie z.B. dem Blutdruck - ist eine korrekte Interpretation OHNE das erforderliche medizinische Fachwissen für einen Laien so gut wie unmöglich. Die wenigsten Nicht-Mediziner wissen, dass die Bewertung einer Blutdruckmessung nur im Kontext von vielen anderen Messungen richtig verstanden werden kann und von vielfältigen Faktoren abhängt, wie z.B.:

- von der Tageszeit der Messung

- an welchem Körperteil gemessen wurde

- vom Angstlevel

- von Spannungszuständen im Körper

- von Medikamenteneinnahme

- von Mahlzeiten

- wie gut der Körper hydriert ist

- ...

All dies und mehr berücksichtigt der Diagnostiker z.B. bei der Feststellung eines Bluthochdrucks.


Bitte überlegen Sie jetzt einmal, wie viel schwieriger es ist festzustellen, ob Sie an einer psychischen Erkrankung leiden - basierend auf Ihrer eigenen Interpretation subjektiver Internet-Selbsttests oder Videos.


Der menschliche Körper und sein Gehirn sind unglaublich komplex. Die Möglichkeiten, wie unsere Umwelt sie beeinflussen kann, sind nahezu unendlich. Deswegen ist Diagnostik - besonders bei psychischen Erkrankungen - eine Wissenschaft. Halbwissen bzw. noch schlimmer: falsches Wissen kann in diesem Kontext sogar gefährlich sein.



Warum sind diagnostische Checklisten für Laien schwer zu befolgen?


Folgende Punkte sind einige häufige, typische und systematische Fehler von Personen, die sie versuchen, psychische Erkrankungen selbst zu diagnostizieren:


1. Verwechseln von anekdotischen Symptomen mit Mustern.

Die Diagnose von psychischen Erkrankungen erfordert, dass jemand ein umfangreiches und anhaltendes Verhaltensmuster in verschiedenen Umgebungen und zumeist über einen definierten längeren Zeitraum zeigt. Anekdotische (einzelne, nicht wiederholte) Vorkommen sind hier oft nicht relevant. Nur weil das letzte Meeting wirklich schwer auszuhalten war, heißt das nicht, dass Sie ADHS haben. Auch wenn Sie den ganzen Tag geweint haben, nachdem Ihr geliebtes Haustier gestorben ist, sind Sie noch lange nicht depressiv.


2. Verwenden der falschen Vergleichsgruppe.

Diagnostischen Checklisten beschreiben in der Regel ein Muster von abweichendem Verhalten - allerdings müssen Sie sich mit Menschen im gleichen Alter, Geschlecht und (mittlerweile immer wichtiger) kulturellen Hintergrund vergleichen, um für eine Diagnose relevante Aussagen zu erhalten. Ein für ein Kind adäquates Verhalten mag bei einem Erwachsenen bereits ungewöhnlich sein.


3. Unkenntnis der medizinischen Bedeutung eines medizinischen Begriffes.

Im täglichen Sprachgebrauch verwenden wir medizinische Begriffe wie "depressiv", "manisch", "bipolar", "Borderline", etc. oft in einer Weise, die überhaupt nicht dem entspricht, was psychische Gesundheitsexperten unter diesen Begriffen verstehen. Der zunehmend offenere Zugang, über psychische Gesundheit sowie Probleme zu reden, hat diesen Trend beschleunigt.


4. Unterschätzen der Schwierigkeiten, in den eigenen Kopf zu sehen.

Einige unserer eigenen Verhaltensweisen sind durchaus leicht zu beurteilen, allerdings haben wir auch so viele Informationen (und Fehlinformationen und Desinformationen) über unsere eigenen Handlungen, dass es schwer sein kann zu beurteilen, warum und sogar was wir denken, fühlen und tun. Die Kombination Ihrer eigenen Eindrücke mit einem ausgebildeten professionellen externen Beobachter kann helfen, eine qualifizierte Einschätzung darüber zu erhalten, ob Ihre Wahrnehmung von Krankheits-Symptomen mit der Expertensicht tatsächlich zusammenpasst.


5. Falsche Rückschlüsse von anderen auf sich selbst.

Selbst wenn Sie denken, dass jemand in einem TikTok- oder YouTube-Video völlig ehrlich ist - selbst dann wird diese Person nicht ALLE ihre innersten Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen offenlegen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden bestimmte Persönlichkeitsaspekte oder Verhaltensweisen dennoch zurückbehalten - schließlich sind hier oft kommerzielle Absichten mit im Spiel. Auf Basis dieser Perspektive versuchen festzustellen, wie ähnlich Sie wirklich jemandem sind, der auf TikTok oder YouTube Videos über seine psychische Erkrankung spricht, ist äußerst unzuverlässig und fehleranfällig.


6. Recherchefehler in Folge von Bestätigungsverzerrung.

Wenn wir meinen, "depressiv", "bulimisch" oder "autistisch" zu sein, suchen wir nach Beweisen, die dies zu unterstützen scheinen, und dabei vermeiden wir es tendenziell, uns mit widerlegenden Beweisen ernsthaft auseinanderzusetzen. Unsere Wahrnehmungsprozess funktionieren so und deswegen neigen sie dazu, Daten zu suchen, die unsere bereits bestehenden Überzeugungen unterstützen, und letztlich filtern und intepretieren wir Fakten genau in dem Licht, wie wir die Welt bereits sehen.


7. Beeinflussung durch persönliche Vorurteile.

Ob bzw. wie sehr Sie andere Menschen mögen oder eben auch nicht, beeinflusst Ihre Einschätzung oft sehr nachhaltig, ob Sie meinen, etwas mit ihnen gemeinsam zu haben. Es ist für Menschen durchaus sehr schwierig zu akzeptieren, dass sie selbst kontinuierlich Verhaltensweisen von genau derjenigen Person zeigen, die sie eigentlich ablehnen. Als Beispiel: "Ich kann unmöglich ADHS haben, weil ich überhaupt nicht wie meine Mutter bin, die definitiv ADHS hat!"


8. Fehleinschätzung über die möglichen Ausprägungsbandbreiten von Erkrankungen.

Nahezu alle psychischen Erkrankungen (Ängste, Depressionen, Autismus, Schizophrenie, ADHS, ...) können in vielen unterschiedlichen Schweregraden auftreten - von ganz mild bis sehr schwer. Manche depressive Menschen können den ganzen Tag sehr erfolgreich arbeiten und ihre wahren inneren Gefühle verbergen, wenn sie nach Hause kommen - ohne, dass es ihre Umwelt bemerkt. Andere weinen stundenlang und schaffen es gar nicht mehr aus dem Bett. Manche erfolgreich tätige Unternehmer, Politiker, Künstler, Ärzte und andere zeigen sämtliche Kriterien einer ADHS Erkrankung, während andere mit der selben Erkrankung wiederum berufsunfähig sind oder auch keinerlei Beziehungen erfolgreich aufrechterhalten können.


9. Unkenntnis über die Symptom-Varianten.

Idente Erkrankungen können sich auf unglaublich vielfältige Weise zeigen - sogar soweit, dass Menschen mit identer Diagnose gar keine gemeinsamen Symptome zeigen können. Bei Depression gibt es mehr als 200 unterschiedliche Symptomkombinationen, beim ADHS-Spektrum sind es sogar mehr als 100'000!


10. Unkenntnis darüber, was Sie nicht haben.

Mit Internet-Recherche bei "Dr.Google" haben Sie sich vielleicht ausführlich über die vermutete Erkrankung informiert. Aber haben Sie sich auch über ALLE anderen möglichen Erkrankungen informiert, die sich überschneiden und mit Ihren Symptomen verwechselt werden könnten? Denn unterschiedliche Erkrankungen können zu erstaunlich ähnlichen Symptomen führen. Die Herausforderung für einen Fachmann bei der Differential-Diagnostik ist auch zu bedenken, welche symptomatisch ähnlichen Erkrankungen in Betracht bzw. ausgeschlossen werden können.


11. Einfluss Ihrer Persönlichkeit auf die Krankheits-Darstellung.

Jeder Mensch hat seine individuellen Stärken, Fähigkeiten und Erfahrungen. Jeder von uns ist auf seine Art einzigartig auf dieser Welt. Die individuellen Eigenschaften, Erfahrungen und persönliche Umwelt eines jeden Menschen haben einen substantiellen Einfluss, wie er seine Erkrankung erlebt, mit ihr umgeht und sie auch der Umwelt präsentiert.



Empfehlung


Niemand kennt Ihre psychische Welt und Empfindungen besser als Sie selbst. Auch wenn gar nichts gegen einen offenen Austausch mit Familie, Freunden und anderen Personen des Vertrauens spricht, lassen Sie sich nicht von im täglichen Sprachgebraucht verwendeten Begriffen ("depressiv", "bipolar", "Borderline", "ADHS", ...) täuschen. Medizinisch gesehen haben diese Fachbegriffe einen ganz spezifischen Kontext und eine sehr konkrete Bedeutung - meistens allerdings anders als im privaten Gespräch.


Informieren Sie sich via Internet oder auch Videos. Bedenken Sie jedoch, dass hier meistens fachliche Laien ihre individuellen Krankheitserfahrungen darstellen und Ihre eigene Situation davon sehr deutlich abweichen kann. Ziehen Sie aus augenscheinlich ähnlichen bzw. Ihnen bereits bekannten Symptomen keine eigenen Schlüsse über mögliche Erkrankungen oder gar Diagnosen. Merken Sie einfach, dass Ihr psychisches Erleben vielleicht einmal durch einen Spezialisten beleuchtet werden sollte.


Und dann gehen Sie mit all diesen Themen zu einem/r Fachexperten/in, konfrontieren Sie diese Person mit Ihrem gesamten psychischen Erleben und stellen Sie all die Fragen, die Sie bewegen. Nur so erhalten Sie Gewissheit über Ihre konkreten Symptome und damit eine zuverlässige Diagnose!


Und - warten Sie nicht zu lange...


Bleiben Sie gesund!

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